Spiritualität ist für mich nichts, das man sich aneignet, nichts, das die einen haben/wollen und die anderen nicht. Ich sehe es so: Wir sind geistige Wesen, die sich verkörpern und dann wieder, wenn es an der Zeit ist, „entkörpern.“ Vor dem menschlichen Leben waren wir reiner Geist, während der Inkarnation sind wir Geist, Seele und Körper und nach dem „Ab-Leben“, dem Übergang in unsere Heimat, sind wir wieder reiner Geist. Auf diesem Wissen (andere könnten es „Annahme“ nennen) basiert alles, was ich fühle, denke, sage und tue. Nicht mehr und nicht weniger.
MEINE KINDHEIT
„Bettinas Welt war immer heiter.“ Mein Vater
(Aus dem Buch "Menschenkinder oder Gesandte des Himmels)
Ich war immer ein selbstbestimmtes Kind, auch wenn man mir das nicht unbedingt anmerkte. Ich war im Prinzip immer freundlich (abgesehen von den Momenten, wo ich gekotzt und geschrien habe, weil keiner gemerkt hatte, dass meine Speiseröhre zu eng war und ich Milch sowieso nicht gut vertrug). Deshalb mochte ich den despektierlichen Namen „Käsesäusi“ nicht besonders. Säusi nannte ich mich selber, sobald ich sprechen konnte. Ich sprach dann im Großen und Ganzen eher Chinesisch, nannte das Essen „Mm’eina“, Flüssigkeiten „Jaujau“, Tante Wichern hieß „Wüham“ und die Putzhilfe namens Frau Lang „Tangkang.“ Aber das macht ja jeder so oder ähnlich.
Der Name Säusi entsprach meinem Energievolumen, das heute wie damals sehr hoch war und mich zu unablässiger, freudiger Tätigkeit antrieb. Zusätzlich musste immer alles einen Sinn ergeben. Sinnloses lehnte ich ab oder mochte es nicht.
Meine Mutter war in zweifacher Hinsicht gut gerüstet, eine Mutter zu sein: Ihr Vater war künstlerisch veranlagt, protestantisch-anthroposophisch und etwas extrem schwärmerisch/idealistisch ausgerichtet, die Mutter, eine von fünf Töchtern des hugenottischen Elsässers Ferdinand Gauterin, gastfreundlich und praktisch veranlagt, dazu sehr auf korrekte Außenwirkung bedacht. Meinem Opa wird nachgesagt, er hätte nie ruhig am Tisch gesessen, sondern immer irgendetwas erschaffen. Aus Brotresten wurden abenteuerliche Fabelwesen geknetet, aus Orangenschalen Männchen geschnitzt. Seine Schneegestalten, Sandschlösser und Kasperlefiguren sind legendär. Alles bekam durch ihn eine neue, schöpferische Ordnung. Oft sah man ihn zeichnen und aquarellieren. Sein Garten war riesig und machte viel Arbeit, versorgte aber Familie, Nachbarschaft und später Kriegsgefangene das ganze Jahr hindurch.
Meine Mutter ließ sich zuerst als Kindergärtnerin ausbilden. Sie übte den Beruf nie im kommerziellen Rahmen aus, sondern blieb zu Hause bei uns, ihren beiden Töchtern. Obwohl sie, aus der Kriegsgeneration stammend, als Erwachsene keine Nähe mehr aufbauen und keine Wärme mehr vermitteln konnte, machte sie (für mich) sehr vieles richtig. Sie bastelte mit uns, las vor, sang mit uns Kinderlieder oder lustige Reime und gab uns Raum, kreativ zu sein. Wir dürften mit Wasserfarbe die Küchenfenster bemalen, mit Mamas „Klamotten“ und Stöckelschuhen Verkleiden spielen, hatten einen Kaufladen, ein Kasperletheater, für das ich Stücke schrieb, und eine kleine Kinderküche, in der ich, nach dem Kinderkochbuch „Die Kochjule“ (von Köllnflocken herausgegeben), Haferflocken in immer neuen Varianten mit Banane, Äpfeln, Nüssen, Honig und Zucker mischte.
Später, als wir aus dem Zentrum des Städtchens mehr aufs Land zogen, war ich oft alleine unterwegs in den Blumenwiesen und Weizenfeldern und im Geheimniswäldchen, in dem ich Mutproben absolvierte à la: Über den Bach springen, auf den höchsten Baum klimmen und in Windeseile wieder herunterklettern, Ameisen essen, mit geschlossenen Augen den Weg durchs Dickicht finden und, auf dem Spielplatz, den Todessprung wagen. Der Todessprung geht so: Man klinke sich mit angewinkelten Beinen kopfüber ans Reck, bringe sich in Schwung und wage auf dem Höhepunkt der Schwungbahn den Absprung, sodass man nicht nur elegant auf den Füßen landet, sondern auch noch stehen bleibt und eine Verbeugung würde machen können, (was ich aber nie tat, da es kein Publikum gab und ich auch keins gewünscht hätte).
Am Reck kannte ich mich aus. Während ich den Schulsport später zutiefst ablehnte und sogar Angst vor dem Sprung über den Kasten entwickelte, konnte ich stundenlang am Reck turnen. Tausende von Umschwüngen vorwärts und rückwärts, Tausende Absprünge kommen da zusammen. Wenn ich schaukelte, dann am liebsten auf ganz hoch in den Himmel ragenden Schaukeln. Ich konnte Stunden damit verbringen, in den Himmel zu schwingen und mich frei wie ein Vogel zu fühlen. Mein Brieffreund Robbie, Nachbarjunge meiner Tante Ricky in Pullach, wartete oft ungeduldig auf die Fortsetzung unserer Radtouren, falls wir an den sagenhaft hohen Schaukeln des Spielplatzes vorbeikamen und ich mal wieder nicht widerstehen konnte. Robbie war pragmatischer veranlagt und fand nichts Besonderes am Schaukeln.
Auf dem Spielplatz in meiner Siedlung sahen mich die Puppenwagenmädchen aus der Nachbarschaft verständnislos „Wundersteine“ suchen, seltsam glatt-polierte, edel aussehende Steine in allen Braun-, Rot- und Ockertönen, manchmal auch in tief glänzendem Schwarz. Später erfuhr ich, dass es Achate waren, Halbedelsteine, zu denen ich in meinem Buch „Solé oder der Weg zum Sein“ geschrieben habe:
„Der Achat ist ein seit langer Zeit hoch geschätzter Stein, der Glück und Geborgenheit vermittelt. Er ist in Hohlräumen entstanden, die durch Gasblasen beim Erkalten der Lava gebildet wurden. Dadurch bekommt er die charakteristische ovale Form, die ihn zu einem Symbol für den menschlichen Embryo werden lassen. Deshalb wird er als Schutzstein bei Schwangerschaften genutzt. Seine Energie unterstützt das Heranwachsen des Kindes im Mutterleib und stärkt die Gebärmutter.
Er hat eine wunderschöne Zeichnung, die ‚Bänderung’, die dadurch entsteht, dass er verschiedene andere Kristallquarze eingelagert hat, zum Beispiel Karneol, Onyx, Jaspis, Chalcedon, Amethyst und Bergkristall. Dadurch entsteht ein vielfarbiger, abwechslungsreicher Stein, der uns zeigt, wie Harmonie durch die Integration vieler verschiedener Elemente erreicht werden kann.
Achate ziehen unsere Aufmerksamkeit in sich hinein. Sie bilden Landschaften und führen uns in unsere eigene Ruhe und Geborgenheit. Sie sind Führer in dieser Landschaft, fördern unser Wachstum und bringen uns zu unserer inneren Reife. Der Achat schenkt uns eine ruhige Kraft, die uns ausgewogen sein lässt und Entscheidungen in beschaulicher Bedachtsamkeit treffen lässt. Diese Entscheidungen sind praktisch orientiert und gut umsetzbar. Er holt uns heraus aus unserer Ungeduld und befriedet uns mit seinen warmen, teils milchigen Erdtönen.
Wenn wir mit einer Achatscheibe meditieren, können wir sie zunächst vor eine Kerze halten, sodass die eingeschleusten Kristalle funkeln und glitzern und die Farben zu strahlen beginnen. Wir betrachten sie eine Weile, dann legen wir sie oder einen anders geformten Achat auf unseren Bauch, verbinden uns mental mit seiner Kraft und sagen uns: ‚Ich fühle mich geborgen. Wie der Embryo im Mutterleib, so bin ich in dir, Schöpfergeist, geborgen. Du bist für mich da, ich lasse all meine Sorgen los und überantworte sie dir.’ Bei einer Entscheidung, die ansteht, fügen wir hinzu: ‚In der ruhigen Abgeklärtheit meines Inneren reift meine Entscheidung. Und ich reife mit ihr. Ich bin bereit, sie umzusetzen.’“
Ich hatte mir also auf dem Spielplatz die mütterliche Nähe besorgt, die ich zu Hause so nicht bekommen konnte. Zusätzlich formte ich aus Lehm Klöße, die dann auf dem Spielplatz ihrerseits Mutproben absolvieren mussten, die sie leider meistens nicht bestanden. So lernte ich mich an die menschliche Natur und ihre/meine Mängel erinnern, trainierte aber unbeirrbar weiter, um sowohl meinen Erdklößen als auch mir selber das Durchhalten beizubringen. Mit Puppen habe ich weniger gespielt, sie waren mir zu leblos. Da waren mir die Klöße lieber. Sie machten einem nichts vor und zeigten sich so, wie sie wirklich waren: Verletzlich und instabil. So wie die menschliche Hülle aus Materie verletzlich und instabil ist. Der Mensch Adam wurde von Gott aus Adama (Hebräisch: Erde) gemacht. An anderen Stellen wird vom Staub gesprochen (Afar), von dem wir kommen und zu dem wir zurückkehren, sobald uns Gott den Atem genommen hat. Dem ersten Buchstaben im hebräischen Alphabet Aleph wird die Zahl 1 Achad zugeordnet. Die Eins steht für Wind, Atem/Geist (Neshama und Ruach, auch für Wind gebraucht) und Seele (Nefesh). Aus der Eins heraus wurde alles geschaffen; deshalb beginnt auch das Wort Adamah (Erde) mit der Eins des Aleph, und Adam, der erste Mensch (in der uns bekannten Verbindung aus Körper, Seele, Geist), bekam seinen Namen Erdkloß. Eva wird im Hebräischen mit Chawah bezeichnet. Das H, auch CH, Zeichen für Leben (Chaim) deutet auf den durch Gott verliehenen Lebensatem und die Fähigkeit, Leben zu schenken. Man kann in dieser Richtung beliebig weitergehen und vieles entdecken.
Ich verbrachte die meiste Zeit meiner Kindheit draußen. Ich habe sehr viel durch die Natur gelernt. Ich habe auch sehr viel durch meine Eltern gelernt. Da sie sich während ihres Kirchenmusikstudiums in Detmold kennengelernt hatten, spielte Musik eine große Rolle. Mein Vater, der später ein passionierter, somit guter und beliebter Realschullehrer wurde, war immer im Dienst. Das konnte anstrengend sein, aber im Schnitt war es natürlich nützlich. Er reiste gerne. Also reisten wir viel. Reisen bildet bekanntlich auf eine sehr tiefe Weise und öffnete mir den Blick für andere Kulturen. Auch bei den Tanten Renata in Paris und Ricky in München lernte ich viel dazu.
Mein Vater war ungeduldig und charismatisch, humorvoll und idealistisch. Heute ist er all das ohne die Ungeduld. Er ermutigte mich zum Lernen, Lesen, Musizieren, Musik hören und Schreiben. Meine Mutter gab Klavierunterricht, konnte wunderschön singen und Geschichten schreiben, pflegte Haus und Zaubergärtchen und versorgte mich mit Büchern aus der großen und kleinen Bücherwand. Ich fraß den Inhalt der Bücher regelrecht. Oft nahm ich sie mit in den Wald, las sie im Wipfel eines Baumes oder inmitten von Wiesenblumen, umsummt von Bienen, Hummeln und anderem Getier, am Feldrain oder im Weizenfeld, bis all das in unserer Umgebung in einem geradezu irren Tempo vernichtet wurde und der Industrialisierung zum Opfer fiel. Manchmal lag ich auch zusammen mit meiner Mutter bequem ausgestreckt auf meinem Jugendzimmerbett und wir lasen, bewaffnet mit grässlich süßen Schoko-Fruchtstäbchen, den Büchereistapel durch, während die Blumen aus dem magischen Gärtchen zum Fenster hereindufteten.
Das und ihre Wacht an meinem Bett während meiner schweren Lungenentzündung im Alter von zehn waren die Augenblicke größter Nähe, die sie entstehen lassen konnte. Doch ich spürte hinter der Fassade immer ihr großes Herz, ihr Mitgefühl, ihre Verantwortungsbereitschaft und Hingabe. Ihre Hände waren magisch und heilsam. Als ich sie/ihren Körper vor kurzem im Sarg liegen sah, waren es ihre Hände, die meinen Blick auf sich zogen. Die mütterlichen Hände sind wichtiger als man denkt. Wenn sie wirklich berühren, berühren sie auch die Seele. Das vergisst ein Kind nie.
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Ich „besaß“ als Kind einen weiteren Schatz: Das war Tante Wiechern. Das war eine Oma, die ganz oben im Haus wohnte. Ich bin immer mal wieder zu ihr hochgestiefelt. Es gab leckere Plätzchen aus einer mit Bildern gestanzten Blechdose. An Gespräche erinnere ich mich gar nicht, nur an die große Standuhr, die immer Tocktocktock machte und bei voller Stundenzahl gewaltig und metallen aufklang; und an die große Kastanie, die im Frühjahr ihre Kerzen bis ins Fenster hinein leuchten ließ und im Herbst mit edelbraun glänzenden Bällen um sich warf und bei Sturm an die Scheiben klopfte wie ein mürrischer und klatschnass geregneter Wanderer, der nur noch die Stiefel ausziehen und sich ausruhen wollte. Tante Wiechern war eine echte Oma mit weißem Dutt und Brille auf der spitzen Nase. Sie schenkte mir ein Bilderbuch über freche Kätzchen, die nur Unsinn machen und zum Schluss mit großen Augen um Verzeihung bitten; sie hätten es doch nicht böse gemeint. Und dann wurde ihnen verziehen.